DIE LINKE HAND
Die Fensterfront bot uns am Morgen eine herrliche Aussicht auf den Indischen Ozean. Mein Blick schweifte vom Meer über die Stadt zu den kleinen Hütten, die direkt an das Areal des Luxushotels grenzten. Im ersten Moment dachte ich, es wären Hundehütten, bis ich realisierte, es waren die Behausungen der Menschen. Jener Menschen, die uns so freundlich die Koffer ins Zimmer brachten und in wenigen Minuten das üppige Frühstück servieren werden. Mein Magen krampfte sich zusammen, als mir bewusst wurde, dass das Marmorbad unserer Suite größer war, als die Lehmhütten da unten.
Rolf hatte eine Rundreise durch Sri Lanka, mit eigenem Chauffeur im Mittelklassewagen gebucht . Bei der nächtlichen Fahrt vom Flughafen ins Hilton Colombo war ich vor Müdigkeit eingenickt und erst durch das gleißende Licht des 5*Hotels aufgeschreckt. Am frühen Morgen erlebte ich nun den Kulturschock. Rolf verstand meine Bedenken nicht, meinte, der Tourismus sei die wichtigste Einnahmequelle des Landes, durch uns bekämen die Menschen Arbeit. Das mochte stimmen, dennoch dieser Gegensatz zwischen Arm und Reich ließ einen bitteren Beigeschmack zurück.
Über die Reise gäbe es viel Beeindruckendes von den Kultstädten der Buddhisten und Hindus, von Tempelanlagen, von Candy und der Landschaft mit Reisfeldern, üppiger Vegetation, dem Hochland mit den Teeplantagen und dem Meer zu berichten. Doch ein Erlebnis ging mit unter die Haut,
Wir waren nach einigen Tagen an einem weiteren Höhepunkt der Reise, in Sigiriya angekommen, wollten die Fresken der Wolkenmädchen auf der Felsenfestung sehen. Ein buddhistischer Mönch bot sich als Führer an.
Am Weg zum Monolith stand eine junge Bettlerin, ausgezehrt ihr Körper, eingefallen ihre Augen, traurig ihr Blick. Sie kam auf mich zu und streckte mir ihren linken Arm entgegen. Der rechte Arm fehlte ab der Schulter.
Ich öffnete meine Brieftasche. Unser Führer wollte verhindern, dass ich der Frau Geld gebe. Ich ließ mich nicht abhalten und gab ihr umgerechnet etwa 20 Euro in Rupien. Zuerst blickte sie fassungslos auf das Geld in ihrer Hand, danach huschte ein glückliches Lächeln über ihr abgemagertes Gesicht. Eilig versteckte sie das Geld in ihrem schmutzigen Sari und wollte mir die Hand küssen, das ließ ich nicht zu und reichte ihr die Hand.
Der Mönch redete wütend auf sie ein, er verlangte offensichtlich das Geld von ihr. Die Frau lief weinend davon. Mir erklärte er mit lautem Wortschwall, bösen Menschen darf man nicht helfen, ich hätte nichts Gutes getan!
Diese Frau habe in einem früheren Leben jemanden getötet, darum fehlt ihr die Hand. Niemand wird ihr glauben, dass sie so viel Geld geschenkt bekam, man wird sie als Diebin verhaften. Ich war geschockt und bedauerte die einarmige Bettlerin und ihr ungewisses Schicksal.
Erinnert wurde ich an diese arme Frau, als ich vor Tagen die erschütternden Berichte über die Flüchtlinge auf der Insel Lesbos sah. Wo bleibt die Menschlichkeit, fragte ich damals wie heute. Sollte Altruismus nicht ein Grundwert für alle Religionen, alle religiösen oder humanistisch denkenden Menschen sein?
Man sieht nur mit den Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Antoine de Saint-Exupéry , aus DER KLEINE PRINZ