Die alte Linde in Wiesen,

dem Ort meiner Kindheit

DIE ALTE LINDE

© Gerlinde Pauschenwein 

 

Bäume üben seit Kindertagen eine große Faszination auf mich aus. Ihre Kronen haben etwas Beschützendes, Geheimnisvolles, Ehrfurcht gebietendes an sich. Bei vielen Wanderungen mit Eltern und Brüdern durch die Wälder haben sich unauslöschliche Eindrücke aus meiner Kindheit eingeprägt.

Wenn Sonnenstrahlen durch das dichte Laub blinzelten und im Schimmer des Lichts Insekten darauf tanzten, wenn auf bemoosten Waldwegen das Spiel von Licht und Schatten zu sehen war, empfand ich ein Glücksgefühl. (In späteren Jahren erlebte ich diese Stimmung in den Museen, z.B. in den Landschaftsbildern von Waldmüller.)

Wenn der Ruf des Eichelhähers die Tiere des Waldes vor uns warnte, erklärte uns Vater mit leiser Stimme die Flora rund um uns. Wir betasteten die Rinden, untersuchten die Wedel der Farne, ob die Sporen schon reif waren, oder suchten nach Pilzen. Wir freuten uns über jeden giftigen rotleuchtenden Hut mit weißen Punkten, auch wenn wir ihn nicht berühren durften. Auf Lichtungen und sonnigen Wegen mussten wir so mancher Kreuzotter ausweichen. Im Schatten großer Tannen hielten wir Rast, aßen Butterbrote, dazu Obst aus unserem Garten. Ich liebte es, im samtig weichen Moos zu sitzen und Mutters Geschichten zu hören.

Der wichtigste Baum meiner Kindheit war die Jahrhunderte alte Winterlinde vor der Barbarakirche meiner Heimatgemeinde. Ihre ausladende Krone spendete Schatten nach jeder Sonntagsmesse, wenn die Eltern mit Verwandten und Bekannten einen kurzen Plausch hielten. Wir Kinder umkreisten den kraftvollen Stamm im Spiel, atmeten den süßlichen Duft der Lindenblüten ein, oder hörten staunend das Summen tausender Bienen, die vom Blütenduft angelockt wurden. Vater öffnete uns Kindern die Augen für die Schönheit der Natur in jeder Jahreszeit. Die Blüten der Bäume, natürlich auch die Lindenblüten zählten dazu. Wir sammelten die Blüten, der Tee linderte Hustenanfälle. Später im Jahr sammelten wir die zerbrechlich wirkenden kugeligen Früchte, wenn sie am großen Blatt, das ihnen als Flugapparat diente, durch die Luft segelten und zu hunderten auf der Wiese lagen.

Vater, der Lyriker, schrieb eines seiner schönsten Gedichte über diese 20 Meter hohe Linde, die Jahrhunderte geblüht, letztlich altersmüde, im Kern vermorscht und gespalten war. Die Dorfbevölkerung wollte dieses Naturjuwel, das ca. 1650 gepflanzt worden war, erhalten. Heute ist die Linde innen komplett hohl und wurde mit Gewindestangen kreuzweise verstärkt. Damit ist ihr Überleben gesichert und sie blüht weiter.

Bäume, Symbol des Lebens! Fest verwurzelt im Boden finden sie Halt, wachsen mit ihren Ästen und Kronen dem Himmel entgegen. Bei den Germanen galt die Linde als heiliger Baum, ob sie tatsächlich der Göttin Freya zugeschrieben wurde, ist nicht wichtig für mich.

 

Kindheitserinnerungen und meinen Kosenamen LINDE werde ich immer mit diesem Baum verbinden.