EIN LETZTER BRIEF

Ein letzter Brief

 

6. März

Der Morgen war noch grau und trüb, als ich vor zwölf Stunden in den Railjet stieg, um jene Stadt zu besuchen, die ich nur von deinen Erzählungen kannte. Ich blickte hinaus in die Ferne, nur schemenhaft nahm ich während dieser fünfstündigen Fahrt die schneebedeckten Dächer und Kirchtürme wahr. Die winterliche Landschaft flog an mir vorbei, ohne dass ich mich am frischen Schnee erfreuen konnte. Am Semmering, als die Fahrt langsamer wurde, sah ich Baumwipfel und biegsame Äste unter schwerer Schneelast zusammenbrechen. Die Kälte des Winters spürte ich auch in mir. Die Erinnerungen an dich, an die Jahre unserer Liebe begleiteten mich den ganzen Tag.

 

Der Abend ist inzwischen hereingebrochen, ich sitze wieder im Railjet,nun Richtung Wien.

Ich muss schreiben. Gedanken niederschreiben, die in die Welt drängen. Obwohl ich weiß, dass du diesen Brief nie lesen wirst.

Der letzte Brief an meine heimliche Liebe, Urquell höchster Lebensfreude und tiefsten Schmerzes. Schreiben bringt Trost.

Nie werde ich erfahren was passierte, damals, als du von mir weggefahren bist, nach einer Nacht, die uns das Alter vergessen ließ. Ich erinnere mich an deine zittrige Hand am Morgen, die kaum die Kaffeetasse halten konnte, an dein blasses Gesicht. Mein Gefühl sagte, etwas stimmt mit dir nicht. Du warst anders als all die Jahre zuvor.

Eine liebevolle Umarmung.

Ein leidenschaftlicher Kuss.

Danach hörte ich nichts mehr von dir, keine Mails, keine SMS, dein Handy blieb ausgeschaltet. Dein wochenlanges Schweigen machte mir Sorgen, ich ahnte, es muss etwas passiert sein. Niemals hättest du dich grundlos, ohne darüber zu sprechen, aus meinem Leben davongeschlichen. Die anfänglich stürmische Affäre war zu einer leidenschaftlichen Beziehung, zur Liebe gereift.

Nur wir wissen, wie alles begonnen hatte. Es war in einer Frühlingsnacht nach meinem Atelierfest. Die Gäste hatten sich verabschiedet, auch Heinz, den alle für meinen Liebhaber hielten, war endlich gegangen. Für Heinz war ich nur die Alibifrau. Wie viele schwule Männer war er charmant, gebildet, ein Schöngeist. Er teilte meine Interessen für klassische Konzerte und Theater. Es war für ihn wichtig, dass ich ihn zu offiziellen Anlässen und manches Mal auch zum Heurigen begleitete. Mit einem Wort, er war ein guter Freund, wir trafen einander regelmäßig zweimal die Woche und an Sonntagen. Ein Freund, der mir als Mann gefiel, dessen Anwesenheit mich nur noch mehr nach einer zärtlichen Beziehung sehnen ließ, denn die platonische Freundschaft war nicht in meinem Sinne, als ich ihm begegnete. Monate nach seinem höflich distanzierten Verhalten, erfuhr ich den wahren Grund seiner Zurückhaltung.

Vier Jahre waren seit meiner Scheidung vergangen. Einsam stand ich in jener Nacht vor den Blumensträußen und Gastgeschenken. Das Atelierfest war gut besucht, mit dem Bildverkauf konnte ich zufrieden sein, dennoch war ich aufgewühlt und wollte noch nicht schlafen gehen. Ich setzte mich an den PC, um meine Mails zu lesen. Da sah ich eine Reklame, ein Angebot bei einer Partnerbörse. Innerlich lächelnd beschloss ich, dem Zeitgeist folgend, über Internet nach einem Liebhaber zu suchen. Ich loggte mich unter dem Namen meiner Großmutter mit all meinen kulturellen Interessen ein. Die Rückmeldung kam prompt und war niederschmetternd: „Aus unseren 497824 männlichen Profilen konnte kein passender Partner für Sie gefunden werden. Ändern Sie ihre Vorgaben.“

Es kann doch nicht sein, dass unter einer halben Million männlicher Profile kein einziger Nichtraucher, ab 180 cm, mit kulturellen Interessen zu finden ist, der so wie ich eine Dauerbeziehung sucht, in der Nähe und Distanz sich die Waage halten und jeder seinen eigenen Wohnbereich behält. Enttäuscht schaltete ich den Computer aus. Am nächsten Tag wollte ich mein Profil löschen, das inzwischen von 834 Usern aufgerufen worden war, aber nur eine einzige Nachricht fand sich in meinem Postfach. Du nanntest dich Chris.

Dein stilvolles, beinahe lyrisches Schreiben begann mit den Worten: „Liebe Diotima, so will ich dich nennen, bis wir einander näher kennengelernt haben…“. Du gingst auf alle meine Interessen ein, der Gleichklang zwischen uns war in jeder deiner Zeilen zu spüren. Im Postskriptum teiltest du mir kurz mit: „Die einstige Liebe zwischen meiner Frau und mir ist erloschen, gäbe es nicht die jugendlichen Söhne, meine Ehe wäre längst geschieden. Als Ehepaar mit getrennten Schlafzimmern haben wir uns seit Jahren nichts zu sagen.“

Deine Offenheit wusste ich zu schätzen. Es störte mich nicht allzu sehr, dass du verheiratet warst, da ich nicht vorhatte, jemals wieder zu heiraten.

Deine Anrede verblüffte und erfreute mich zugleich. In jungen Jahren habe ich Hölderlins Hyperion gelesen. Wie kam es dazu, dass du DIOTIMA, Hölderlins weise Frauengestalt, Hyperions Geliebte, als Alternativnamen für mich verwendetest? Sofort schrieb ich zurück, ich nannte dich Hyperion und fragte, ob du Diotima als weise Frau der Antike, die auch in Platons Dialog Symposion zu Wort kommt, oder Diotima, wie sie in der Renaissance gesehen wurde, interpretierst. Deine humorvolle eindeutige Antwort war beruhigend, denn an einer weiteren platonischen Beziehung hätte ich kein Interesse gehabt.

Ein täglicher Gedankenaustausch begann, ich schrieb in der Nacht, du im Morgengrauen. Nach drei Wochen schlugst du mir ein erstes Treffen in Wien vor. Wir hatten uns über Visionen und Hoffnungen für eine bessere Welt, über unsere Lebensphilosophie ausgetauscht, die Familiennamen, den Wohnort und Beruf kannten wir von einander nicht. Ungewöhnlich war zweifellos die Offenheit, aber auch die wachsende Vertrautheit, die uns dazu verleitete, tiefste Gedanken, Enttäuschungen, Kindheitstraumata deinerseits preis zu geben, wir nannten uns Diotima und Hyperion. Zwar war ich beeindruckt von deinen lyrischen Mails, dennoch wagte ich kein Blind Date. War es mein Zögern, das dich dazu brachte, mir deinen Namen und deine Telefonnummer bekannt zu geben? Mit dem Hinweis, ich möge die Homepage deines Instituts öffnen, dort würde ich dein Foto finden, ja damit hast du mich endgültig überzeugt.

Stundenlange Telefonate am späten Abend, tägliche Mails – deine Seele war mir nach wenigen Wochen näher, als die Seele jenes Mannes, den ich einst geliebt hatte, mit dem ich zwanzig Jahre verheiratet war.

Dem ersten Treffen an einem Sommertag des neuen Jahrtausends fieberte ich mit wieder erwachter jugendlich anmutender Sehnsucht, mit Herzklopfen entgegen. Nicht Wien, sondern Gmunden wurde unser Treffpunkt. Ich hatte einen unaufschiebbaren Termin mit einem Galeristen am Samstag in Innsbruck. Noch am selben Tag fuhr ich bis zum Traunsee zurück, um dich am Sonntagvormittag wie vereinbart am Bahnhof in Gmunden abzuholen. Unvergesslich bleibt der erste Eindruck, beschwingt, freudig lachend kamst du mir mit offenen Armen entgegen. Ich zögerte und reichte dir nur die Hand. Für eine Sekunde wirktest du wegen meiner Distanziertheit verunsichert. Dabei warst du genau jener Mann, der mir gefiel, groß, schlank, kurze graue Haare, extravagante Brille, modisch gekleidet. Erotisierend hatte allein schon dein Intellekt während der letzten Wochen auf mich gewirkt, nun rundete sich das Bild zu einem unerwarteten Glücksfall.

Entscheidend war der erste tiefe Blick in unsere Augen. Nein, nicht nur in unsere Augen, in unsere Seelen. In diesem Moment des gegenseitigen Erkennens war uns beiden klar, unsere Begegnung ist schicksalhaft. Nach einem kurzen Kaffeeplausch verlockte die Seepromenade zu einem Spaziergang. Romantisch lag Schloss Orth vor uns, wir bewunderten den Panoramablick von der Traunbrücke in die Bergwelt rund um Gmunden, allen voran dominierte der Traunstein diese Bilderbuchlandschaft. Noch nie hatte Gmunden diesen Charme für mich, selbst der leicht bewölkte Himmel konnte mein Hochgefühl nicht trüben. Am Weg zurück zum Zentrum auf der stark frequentierten Traunbrücke, nahmst du mich in die Arme und sagtest lächelnd: „Lisa, ich muss dir gestehen, ich fühle mich wie mit achtzehn.“

„Mir geht es ähnlich“, antwortete ich lachend.

„Ist das nicht großartig, wir können die Zeit anhalten. Wann hast du dies zum letzten Mal erlebt?“, fragtest du. Ohne eine Antwort abzuwarten, küsstest du mich. In deinem Kuss lag Leidenschaft, ich verlor mich darin. Erst nach einigen Minuten löste ich mich aus der Umarmung. Vorbeigehende blickten irritiert, ein älterer Herr, vielleicht Mitte siebzig, lächelte verschmitzt und fragte:

„Ist Ihnen bewusst, dass Sie auf der Traunbrücke mitten in Gmunden stehen? Ich kann Sie ja verstehen, ja ich beneide Sie sogar, aber dennoch...“, lächelnd ging er weiter.

Scheinbar haben wir die Welt um uns vergessen. Ich konnte nicht klar denken, so benommen war ich. Hand in Hand spazierten wir zurück bis zum Restaurant. Du ludst mich zum Mittagessen ein. Wir saßen auf der Terrasse und wieder bot sich uns bei mittlerweile wolkenfreiem blauem Himmel dieser einzigartige Blick auf die alten Bürgerhäuser, den Traunsee und die Ausflugsschiffe.

Während weiterer Stunden des Gesprächs erfuhr ich viele Details über deinen Beruf, über die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus aller Welt. Natürlich wolltest du mich am Nachmittag, als ich an die Heimfahrt denken musste, dazu überreden, die Nacht mit dir in Gmunden zu verbringen. Bevor ich mich zu einer Antwort durchringen konnte, fügtest du hinzu:

„Worauf sollen wir warten, Diotima? Wem sonst, wenn nicht Dir, hätte ich meine Seele offenlegen können. Durch deine Fragen habe ich mich wie niemals zuvor, vollkommen geöffnet. Du kennst Facetten meines Ichs, die ich selbst in dieser Tiefe bisher nicht kannte. Du hast alle meine Essays gelesen, damit bekamst du einen direkten Einblick in meine Gedankenwelt. Du bist die erste Frau, der ich sehr ehrlich auch über meine Kindheit erzählen durfte, über meine schwerkranke Mutter, die bis zu ihrem frühen Tod gepflegt werden musste.“

„Und Deine Frau, hat sie dir nie zugehört?“

Deine Antwort war mindestens so erschütternd wie deine Schilderungen über die Kindheit.

„Meine zehn Jahre jüngere Frau hat sich nie dafür interessiert wie es mir in meiner Jugend ergangen ist. Sie kommt aus einer anderen Gesellschaftsschichte. Ich lernte sie erst nach der Promotion, genau genommen nach meinem Karrierestart, kennen. Sie lebte im Überfluss, musste nie etwas entbehren, sie hätte mich nicht verstanden. Du, Lisa, weißt als Einzige, dass ich als Student kaum genug zu essen hatte. Überstrahlt wurde dieser Mangel durch das milde Abendlicht der ,Später-Sonne´.“

Du machtest eine kurze Pause, nahmst meine rechte Hand zwischen deine beiden Hände und blicktest gedankenverloren zum See. Für einige Sekunden schwiegen wir.

„Lisa, vieles aus meiner Jugend und Kindheit hatte ich verdrängt, durch die Mails an dich kam Vergangenes aus der Versenkung ins Bewusstsein. Wahrscheinlich war es notwendig, mich all diesen Themen zu stellen. Du gabst den Anstoß dafür, ich fühle eine Erleichterung. Der Rucksack der Lebensaufgaben ist nun nicht mehr ganz so schwer, dennoch: Unsere Lebensuhr tickt unaufhaltsam und wir müssen dies wohl zur Kenntnis nehmen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir an der Schwelle zum unvermeidlichen Abend des Lebens stehen, wir haben keine Später-Ablage mehr.“

„Ach Christian, fünfzig Jahre sind noch kein Alter, du bist nur drei Jahre älter als ich. Das Alter beginnt für mich mit siebzig. Durch unsere Begegnung, ab heute, wird das Licht des Abends vielleicht eine aufstrebende, glückverheißende Morgenröte.“

„Lisa, wir kennen nicht die realen Öffnungszeiten des Lebens. Für mich hat die Nachsaison begonnen, das spüre ich. Du kennst Rilkes Herbstgedicht: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr...“

Ich nickte zustimmend und gemeinsam zitierten wir:

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“

Du küsstest mich, ungeachtet der vielen Menschen auf der Terrasse des Cafés, und flüstertest mir ins Ohr: „Diotima, du hast recht, das Schicksal gibt uns beiden heute nochmal die eine Chance. Ich sehe zwar die Türe zum Alter des Lebens einen Spalt geöffnet, gemildert durch das Wissen zu LEBEN und dafür auch jemanden zu haben, nämlich dich, um dieses HIER und HEUTE zu erleben. Was hältst du von meinem Vorschlag: Ich begleite dich nach Wien. Wir haben weitere drei Stunden Zeit ausgiebig zu plaudern, du kannst alles fragen, was dir noch wichtig erscheint, um meine Seele in ihrer Tiefe auszuloten.“ Du legtest eine Pause ein, nahmst zärtlich meine Hände in deine und sagtest: „Ich müsste erst morgen gegen Mittag im Institut sein, es ist deine Entscheidung.“

„Christian, das geht mir zu schnell“, antwortete ich und unterdrückte mein großes Verlangen nach dir.

„Ich will dich nicht bedrängen. Ich kann auch noch bis zu unserem nächsten Treffen warten, denn ich spüre ein warmes, sicheres Gefühl zwischen uns. Aber bis Wien begleiten darf ich dich?“

Während der dreistündigen Autofahrt legtest du deine Hand um meine Schulter und streicheltest ganz sanft über mein Haar. Du erzähltest aus deinem schriftstellerischen Schaffen, das dir neben deiner wissenschaftlichen Tätigkeit Ausgleich und Freude schenkte.

In Wien angekommen, brachte ich dich direkt zum Westbahnhof. Diese Entscheidung war vielleicht auch meiner konservativen Erziehung geschuldet. In manchen Situationen konnte diese noch immer Entscheidungen beeinflussen. Als du nach einem leidenschaftlichen Abschiedskuss in den Zug stiegst, bereute ich meinen Entschluss in derselben Sekunde.

Übermüdet kam ich zu Hause an. Du riefst noch aus dem Railjet an und wir telefonierten, bis du zu Hause angekommen warst. Am nächsten Morgen schickte ich Dir ein SMS mit unseren Gedanken vom Vortag:

Die SPÄTER SONNE

Wie oft haben wir unsere Wünsche.

Auf die Ablage für später gelegt.

In jungen Jahren fiel es leicht,

Wünsche auszutauschen,

zu verzichten,

ohne Verlustgefühl.

Das milde Abendlicht der Später- Sonne

verhieß uns Hoffnung auf das MORGEN.

Heute haben wir diese Später- Ablage nicht mehr,

sagt dein Gefühl.

Ich spüre, durch die Begegnung mit Dir,

bestrahlt eine glückverheißende Morgensonne

meine und deine Zukunft.

 

Du schriebst zurück:

Liebste Diotìma! Wir leben im HIER und JETZT. Ich warte sehnsuchtsvoll auf das Glück der Morgenröte. Vergiss nicht: Der Sonnenuntergang ohne Morgenröte rückt näher. Echte Liebe ist immer jenseits von GUT und Böse.“

 

Nach einer endlos scheinenden Woche kamst du für zwei Tage zu mir nach Wien. Träume wurden wahr.

Zwei schlaflose Nächte. Erste Begegnung: Wie ein Crescendo mit weit auslaufenden, stufenförmig sich aufbauenden, immer enger als Spirale auf den Höhepunkt zusteuernder Reigen, bis zum Herausschreien unserer Namen: Diotima – Christian! Wie lange hatten wir beide nicht mehr mit dieser Lebensfreude Lust und Leidenschaft empfunden! Welches Glück, die Fülle des Lebens in der Vereinigung zweier Seelen und Körper spüren zu können.

Als du im Morgengrauen vom Taxi abgeholt wurdest, stand für mich fest, diese Begegnung wird überdauern.

Auf meinem Kopfpolster fand ich ein gelbes Post-it:

„Diotima, du mein Glück! Eine Liebe für Körper Seele und Geist.“

Ich schickte dir sofort eine SMS mit einem Hölderlin Zitat: „O, ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt. Danke für diese zwei unvergesslich gefühlvoll leidenschaftlichen Nächte und die aufregend verwirrend schönen Tage!“

Deine Antwort kam nach wenigen Minuten: „Ich muss mich erst wieder ans Leben gewöhnen. Da glüht ein Feuer zu mir, das mich berauscht. Du hast deinen Mantel der Distanziertheit abgelegt, der Konturen von dir verdeckt hielt und nun einen für mich unerwarteten Vulkan zum Ausbruch brachte. Ich bin ganz benommen von diesen zwei Nächten! Ich mag dich sehr! Auch bin ich neugierig, wie wir diesen Hurrikan der Liebe durch Herbst, Winter und den Alltag tragen werden. Und bitte vergiss deine Skrupel meiner Frau gegenüber. Friedrich Nietzsche hat gesagt: Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.

Überraschend war, wie viele Nächte, wie viele gemeinsame Wochenenden wir in den folgenden Jahren verbringen konnten. Unbeschwert genossen wir Wanderungen im Wienerwald, Konzertabende und Besuche in allen großen Museen der Stadt. Ob Rubens, El Greco, Goya oder Monet, Hand in Hand schlenderten wir durch die Ausstellungen, bewegt von der Schönheit vieler Gemälde fühlten wir uns im Kunsterleben tief verbunden. Nach einem Besuch in der Albertina schriebst du mir:

„…wie viel gemeinsame Schlüsselerlebnisse teilen wir durch die Kultur, durch die Kunst. Diese Erlebnisse erzeugen einen immer tiefer werdenden Bezug nicht nur zu sich selbst, sondern auch zum anderen, von mir zu dir, von dir zu mir. Wie viel wärmende Vertrautheit liegt doch in diesen Stunden…ich habe diese bisher nie bekommen…es macht einfach mehr Freude mit einer Frau mit gleichen Interessen zu kommunizieren, die Freude kommt doppelt zurück. Jedenfalls hast du, liebste Diotima, in diesen letzten Jahren mein Leben ungemein bereichert, hast mich aus einer verfahrenen Situation befreit. Dafür bin ich dir und dem Schicksal sehr dankbar.“

Nie sprachen wir über deine Ehe, die gemeinsame Zeit gehörte nur uns, alles andere blendeten wir aus. Es kam der Zeitpunkt, wo du ernsthaft über Scheidung nachdachtest.

Zusammenleben? Nein, das wünschte ich nicht. Jenes Versprechen, das ich mir selbst nach der Scheidung gegeben hatte, niemals mehr mit einem Mann zusammen zu leben, war mir heilig.

Es fiel dir schwer, meine Haltung einer Partnerschaft gegenüber zu verstehen und zu akzeptieren. Ich suchte keine „verpflichtende Liebe“, ich fühlte mich jung, frei und doch in Liebe an dich gebunden. Waren wir nicht glücklich? Auch für dich war die persönliche Freiheit ein erstrebenswertes Ziel, ein hohes Gut.

Deine zittrige Hand, dein blasses Gesicht. Eine liebevolle Umarmung, ein leidenschaftlicher Kuss zum Abschied, dann hörte ich nichts mehr von dir. Dein wochenlanges Schweigen machte mir Angst, keine Mails, keine SMS, dein Handy blieb weiterhin ausgeschaltet. Es wurde zur Gewissheit: Es muss dir etwas zugestoßen sein. Niemanden konnte, niemanden durfte ich fragen. Unsere Liebe war geheim.

Monate später dein unvergesslich schockierender Anruf. Du lalltest unverständliche Silben ohne Zusammenhang in das Handy: „un -fa – da..mal..s ch – an -fall …“

Ich habe dich nicht verstanden, dachte sofort an einen Schlaganfall. Voll Verzweiflung schrie ich ins Telefon: „Christian, Liebster, wo bist du? Ich muss dich sehen, ich liebe Dich!“

Deine Antwort kam stockend, kostete dich viel Kraft: „Mo… ..na.. t.e.. r e ha …. n .n. n. nie .. mehr se ..hen…mei..ne.lie..be Di..o..tima…zu… Hause…Frau…“

Dein lautes Schluchzen habe ich noch im Ohr. Zurück blieb die tote Leitung einer unterdrückten Nummer.

 

Monatelang hüllten mich Verzweiflung, Tränen, Sorge, Schmerz, Unverständnis über das Geschehene, ein. Wut auf das Schicksal, auf Gott, an den ich nicht mehr glaube, überfiel mich. Ich hoffte weiter, googelte nach Aktivitäten von dir. Nichts! Keine Essays in der Literaturzeitung, keine Papers

in Wissenschaftszeitschriften. Nichts! Ich suchte dich auf Google im Tages-, dann im Wochenrhythmus. Deine Direktorenstelle wurde neu besetzt.

Mit der Zeit wurden meine Such-Intervalle größer. Mein Leben verlief ohne nennenswerter Vorkommnisse weiter.

 

Jahre später…

Du warst oft in meinen Gedanken, doch der Schmerz war dem Leben gewichen.

Dann kam dieser trübe Tag. Seit Wochen fühlte ich mich energielos, ich dachte über das Sterben, über den Sinn des Lebens nach, ohne depressiv zu sein. Gemeinsam mit Freunden saß ich im Matinee - Konzert. Wie nach jedem Konzertbesuch wollten wir danach durch die Stadt bummeln um beim „Reinthaler“ in der Dorotheergasse die traditionelle Wiener Küche zu genießen. Plötzlich warst du in meinen Gedanken mit einer Vehemenz, die mir kalte Schauer über den Rücken jagte. Ich konnte mir nicht erklären, woher mitten im tiefsten Musikerleben plötzlich dieses Gefühl von Angst hochkam. Ohne meinen Freunden eine Begründung zu geben, eilte ich nach dem Konzert sofort nach Hause. Die Stunden danach sind für mich heute unerklärlich.

In einer unüberlegten Reaktion aus Sorge, die vielen lyrisch-erotischen Mails könnten gefunden werden, vernichtete ich all deine Mails und deine Essays. Nur zwei behielt ich zurück, die eng mit deinem Leben verknüpft waren und einige wenige unverfängliche Schreiben. Jenes Foto, das ich damals von der Homepage des Institutes ausgedruckt hatte und eines, das du mir nach einigen Monaten geschenkt hattest, behielt ich. Deine unbändige Lebensfreude war auf diesen Fotos zu erkennen.

Nach dem ersten Jahr unseres Kennenlernens hatten wir begonnen, alle Mails auszudrucken. Du sagtest damals verschmitzt lachend: „In späteren Jahren, wenn der Hurrikan unserer Liebe nur mehr Erinnerung sein wird und unsere Zuneigung nur noch als zarte Brise zwischen uns weht, dann werden wir in unseren Siebzigern daraus ein Buch formulieren. Wir werden aufzeigen, dass Leidenschaft keine Altersgrenze kennt. Es soll ein erotischer, berührender Liebesroman zweier Menschen jenseits der Fünfzig werden.

Ich las jedes Mail bevor ich es zerriss. Wehmut begleitete die radikale Auslöschung deiner Worte, die zwei dicke Ordner füllten. Es dauerte Stunden, es war Nacht geworden. Im Bett liegend kam der Gedanke, du könntest an diesem Sonntag verstorben sein.

Einige Tage später googelte ich zum gefühlten tausendsten Mal deinen Namen. Dein offener Blick, dein strahlendes Lächeln waren auf einer Todesanzeige zu sehen. Dein Todestag war jener Sonntag!

Wie ein Blitzschlag durchfuhr der Schmerz meinen Körper.

Was passiert in jenen letzten Stunden am Übergang vom Leben zum Tod? Welche Energien fließen zwischen einem Sterbenden und jenen Menschen, denen er seelisch nahe stand? Die Erinnerungen wurden lebendig im Jetzt, angehalten schien die Zeit. Es gab keine Vergangenheit und keine Zukunft, alles passierte gleichzeitig in der Gegenwart: Unsere gemeinsam verbrachten Stunden, Tage, Nächte voller Leidenschaft, dein fröhliches verführerisches Lachen, unsere jung gebliebenen Herzen. Die vielen stundenlangen Diskussionen über essentielle Themen des Lebens, dein Glaube an die Freiheit der Wissenschaft, deine berufliche Obsession und die steten Fragen, auf die wir keine endgültige Antwort fanden: „WIE lebt man richtig?“, und „Was ist LIEBE in ihrem tiefsten Sein?“

All dies lief als Film vor mir ab. Immer wieder las ich mit tränennassen Augen die Todesanzeige.

Zum Begräbnis konnte ich nicht fahren, doch dein Grab wollte ich bald besuchen.

Über Umwege erhielt ich den Hinweis auf deinen letzten Wohnort, es war ein Pflegeheim in deiner Geburtsstadt. Der Schock war groß. Und wieder taten sich viele Fragen auf, die mir niemand je beantworten wird.

Was bedeuteten diese letzten Jahre für dich?

Jahre im Rollstuhl?

Du warst sportlich. Radfahren und Waldläufe konntest du nie mehr machen. Warst du auf Rollstuhl, Krücken oder Rollator angewiesen?

Jahre im Pflegeheim?

Wie lange warst du gezwungen, in einem Heim zu leben? Bist du freiwillig in die kleine Stadt deiner Kindheit, in die Berge zurückgekehrt? Jene Berge, die in deiner Jugend keine Grenzen setzten, sondern dich anspornten, sie zu bezwingen, um am Gipfel stehend, die grenzenlose Freiheit des Denkens, des sich Entfaltens, zu spüren?

Waren dir dein wacher Geist, dein Intellekt erhalten geblieben?

Konntest du Bücher lesen? Das Lesen, Wissen vermehren, die Freiheit des Denkens, die Freiheit der Wissenschaft hatten oberste Priorität in deinem Leben.

„…die methodische Anwendung über Fragen, die uns heute beschäftigen, um die Probleme von morgen lösen zu können. Auch wenn die Antworten noch hinter einer Nebelwand verborgen liegen. Man muss die Lähmung des Nichtwissens überwinden, den ersten Schritt überlegen, Alternativen prüfen, verwerfen, behalten, Schritte setzen. Manchmal hebt der Wind den Nebel und lässt für Augenblicke so etwas wie Gewissheit aufkommen, die im nächsten Augenblick wieder zerfallen kann.“

Du hast eine Lanze für spekulatives Denken gebrochen. Dein berufliches Wirken in der Forschung wird in Zukunft Bedeutung haben. Es wird nie der intellektuellen Nichtachtung und der sentenziösen Willkür und am Ende der Vergessenheit anheimfallen. Um Adorno zu zitieren, den du verehrtest.

Jahre ohne einen Essay, oder einen Liebesbrief schreiben, ohne sprechen zu können?

Du warst ein Meister der Worte. Deine Essays zu vielen Bereichen des Lebens sind über Jahre in Literaturzeitschriften erschienen.

Hast DU eine Antwort auf die Frage gefunden: Wie lebt man richtig?

Wie oft hast du uns diese Frage gestellt. Wir fanden darauf keine schlüssige Antwort.

Wir liebten das Leben. Wir liebten die persönliche Freiheit als hohes Gut. Wir liebten einander aus vollem Überschwang unserer immer noch jugendlichen Herzen. Wir genossen die Vereinigung unserer Körper, unsere Seelen waren ineinander verschlungen.

Vielleicht ist diese Freude am Leben, die Liebe, die aus tiefster Seele schwingt, die einzig gültige Antwort auf diese Frage.

 

6. März, 23:00 Uhr

Seit Stunden schreibe ich diesen letzten Brief an dich. Schreiben tröstet, schreiben hilft loszulassen.

Ich sehe dein Grab vor mir. Ohne jemanden danach zu fragen, habe ich es gefunden. Intuitiv wählte ich den steilen Weg bis zum letzten Friedhofstor. Geradeaus ging ich in Richtung Friedhofskirche. Tiefe Ruhe lag über den verschneiten Gräbern, nur die schwarzen, schmiedeeisernen Kreuze ragten aus dem Weiß. Links vor mir tauchte ein frisches Grab mit Kränzen auf, das Foto einer jungen Frau konnte ich darauf erkennen.

Auf halben Weg zur Kirche hielt ich an, ein besonders schöner Blick bot sich mir im Osten. Das schneebedeckte zerklüftete Felsmassiv in der Ferne, deine geliebten Berge. Ich blickte zur anderen Seite, zu den kleinen randlosen Gräbern an der Friedhofsmauer und stand direkt vor deinem Grab.

Ein schlichtes Holzkreuz in gefrorene Erde gesteckt, dahinter überdauert ein alter Wildrosenstrauch, an die Friedhofsmauer geduckt, den Winter. Vor dem Kreuz zwei vertrocknete Blumenbuketts, drei leere ausgebrannte Kerzenhülsen aus Plastik, eine verblichene Schleife halb von Eis und Schnee bedeckt. Ein schlichter etwa 40 cm großer Würfel aus hellem Marmor, Symbol des Unveränderbaren, der Ewigkeit weist darauf hin: Alea iacta est.

Daneben steht eine Laterne, die Kerze darin war längst verloschen.

An dieser Mauerseite hat keines der Gräber eine Umrandung, nur wenig Platz wurde den Toten zugedacht. Grabsteine, meist aus weißem Marmor, tragen Namen und Berufe der Verstorbenen. Das schlichte Holzkreuz, das dein Foto, deinen Namen, Geburts- und Sterbetag zeigt, ist ein Fremdkörper in diesem Friedhof.

Was bleibt von uns? Ein Name, Geburts- und Sterbetag. Das Leben dazwischen hat keine Bedeutung für all die Fremden, die an Gräbern vorübergehen.

Nichts an diesem stillen Ort ist wichtig, kein Hofrat oder Direktor Titel, kein Studienabschluss mit Promotion, nichts. Mit dem Namen deines Urgroßvaters und Großvaters, mit dem du als junger Mann aus ärmlichen Verhältnissen aus dieser Stadt aufgebrochen bist, kehrtest du zurück. Wer erinnert sich noch an den wissbegierigen Jungen, dessen Traum es war, diese kleine enge Welt zu verlassen? Wenn du zu den hohen Gipfeln blicktest, wolltest du fliegen können. Du wusstest, auf dich wartete die große geheimnisvolle Welt auf der anderen Seite dieser Berge.

All deine Erzählungen, auch die dunkelsten aus deiner Kindheit waren plötzlich präsent, selbst der lyrisch klingende Name deiner Lehrerin aus der Volksschulzeit fiel mir ein, von der du gesagt hast, sie habe versucht, etwas Aufklärung in diese alpine Ödnis zu bringen.

Der Abflug in die Fremde ist dir gelungen, du bist erfolgreich gelandet, trotz entbehrungsreicher Studentenjahre. Niemand konnte dich von deinem Traum abbringen. Johannes Kepler und Friedrich Hölderlin, die beiden großen Söhne des Tübinger Stifts waren dir Vorbild, Kepler hat dir den Weg in die Wissenschaft gewiesen, Hölderlin den zur Literatur. Nach Abschluss des Studiums mit Doktorhut klettertest du beharrlich die Karriereleiter empor.

An deinem Grab stehend fragte ich mich, kann man einen Menschen in seinem tiefsten Innersten ganz erkennen, auch wenn man ihm verbunden war? Hast du dich selbst erkannt?

Was ist wirklich wichtig im Leben? Titel, Ehrungen, Vermögen?

Was zählt, ist die Freude am Leben, Freude im Beruf, soziales Engagement, Sinnvolles für die Gesellschaft zu leisten, Freundschaften und die Liebe.

Du hast das Leben und die Frauen geliebt, hattest Freunde und ein erfülltes, erfolgreiches Berufsleben.

Wie sind deine letzten Jahre verlaufen? Hätte ich das Recht gehabt im Pflegeheim nach dir zu fragen? Am Weg dorthin bin ich am Nachmittag umgekehrt, es fühlte sich falsch an, deinen letzten Jahren nachzuspüren. Nein, es war nicht aus Rücksicht auf deine Frau, sie wird wohl nie mehr in dieses Heim kommen. Ich bin umgekehrt aus Feigheit, aus Angst vor der grausamen Realität deiner letzten Lebensjahre.

Ich werde aufhören, Fragen zu stellen, ich muss all die quälenden Vermutungen ausblenden, um abschließen zu können. Was bleibt, sind die schönen Erinnerungen!

Wie lange ich gedankenverloren an deinem Grab stand weiß ich nicht, ich begann an Händen und Füßen zu frieren, trotz Moonboots, gefütterter Handschuhe und warmer Kleidung. Ich blickte über dein Grab und die Friedhofsmauer zu den Bergen im Westen, dunkle Wolken zogen auf und kündeten den nächsten Schneefall an. Die letzten Sonnenstrahlen bahnten sich den Weg durch die dicke Wolkendecke zu mir. Ich entfernte die leeren Kerzenhüllen und stellte eine große rote Kerze in die Laterne. Mit dem Entzünden dieser Kerze für dich und unsere einstige Liebe schloss sich unser Lebenskreis.

Es ist beinahe Mitternacht. In wenigen Minuten werde ich in Wien ankommen.

Welch ein Tag!

Ein Tag voller Herausforderungen.

Ein Tag voller Erinnerungen.

Ein Tag voller Schmerz.

Ein Tag voller Fragen.

Ein Tag Leben!